Der Papyrus Westcar
Der Papyrus Westcar, eine Sammlung altägyptischer Texte mit märchenhaftem Inhalt, wurde nach dem Namen eines Engländers benannt, der als junger Mann im Jahre 1823 eine Reise nach Ägypten unternommen und dort eine Papyrusrolle erworben hatte: Henry Westcar. Er hatte diese Reise im Rahmen der besonders in England gepflegten Sitte der „Grand Tour“ unternommen, einer Bildungsreise, die in der damaligen Zeit Teil der Erziehung der Söhne des Adels sowie des wohlhabenden Bürgertums war. Westcar reiste zusammen mit drei anderen jungen Männern nach Ägypten, um Tempel und Gräber aus der Pharaonenzeit zu untersuchen. In Alexandria hatten er und seine Gefährten ein Schiff bestiegen und waren den Nil hinauf bis zum 2. Katarakt gesegelt. Westcar war weder Ägyptologe noch Forschungsreisender, und sicher wäre sein Name heute vergessen, wenn er nicht auf seiner Reise diese Papyrusrolle erworben hätte, auf der märchenhafte Geschichten aus der Zeit des Mittleren Reiches aufgezeichnet sind und die auf keiner weiteren Handschrift überliefert sind. Allerdings sind die Kaufumstände des Papyrus unbekannt. Während seiner Reise verfasste Westcar zwar ein Tagebuch (“A Journal of a Tour made through Egypt”), in welchem er die Stationen dieser Reise beschreibt, auch berichtet er von der Revolte gegen den in Ägypten regierenden Vizekönig Mohammed Ali und spricht vom Kauf verschiedener Aegyptiaca, aber den Erwerb des Papyrus erwähnt er nicht. Er berichtet jedoch von einem Aufenthalt in Qurna, wo er Gräber besuchte und Einheimische ihm Särge sowie Mumien zum Kauf anboten. Möglicherweise hat er dort die Papyrusrolle erworben.
Mary Westcar, eine Nichte von Henry Westcar, schenkte den Papyrus 1838 dem deutschen Ägyptologen Richard Lepsius, der ihn jedoch nicht veröffentlichte, sondern ihn auf dem Dachboden seines Hauses aufbewahrte. Erst nach Lepsius’ Tod wurde das Dokument wieder aufgefunden. Die Besitzverhältnisse sind mit zahlreichen Mutmassungen verbunden und führten immer wieder zu Spekulationen, u. v. wurde behauptet, Lepsius habe den Papyrus unrechtmässig an sich gebracht. 1886 erwarb der Ägyptologe Adolf Erman den Papyrus aus Lepsius’ Nachlass und übergab ihn dem Berliner Museum. Da der Text in der damals noch weitgehend unerforschten ägyptischen Kursivschrift – Hieratisch – geschrieben ist, konnte er zunächst nicht übersetzt werden. Erstmals entzifferte ihn Adolf Erman im Jahre 1890.
Aufbewahrt wird der Papyrus unter der Bezeichnung Papyrus Berlin P3033 in der Papyrussammlung des Ägyptischen Museums Berlin. Er ist die einzige Handschrift des Textes und wurde etwa im 17. Jahrhundert v. Chr. (Hyksos-Zeit) verfasst. Der Text dürfte die Aufzeichnung einer viel älteren volkstümlichen Erzählung eines fahrenden Sängers sein (etwa aus der 12. Dynastie um 2000 v. Chr.). Die Sprache der Prosa-Erzählungen ist die des Mittleren Reiches. Es wird vermutet, dass die Erzählungen lange oral tradiert und erst gegen Ende des Mittleren Reiches aufgezeichnet wurden.
Der Inhalt des Papyrus besteht aus fünf märchenhaften Erzählungen, die in eine Rahmenhandlung eingebettet sind (der Text ist jedoch nicht mehr vollständig erhalten): fünf Söhne des Pharao Cheops (4. Dynastie) erzählen ihrem Vater Geschichten von Zauberern und Wundern, die sich am Hofe von Cheops’ Vater Snofru zugetragen haben sollen.
Kurt Sethe publizierte 1928 in “Ägyptische Lesestücke zum Gebrauch im akademischen Unterricht: Texte des Mittleren Reiches” den hieratischen Text in hieroglyphischer Umschrift unter dem Titel “Wundererzählungen vom Hofe des Königs Cheops“, dem nachfolgende Übersetzung zu Grunde liegt:
Prinz Ba-u-ef-re erzählt –> Das Märchen von Djadja-em-anch und dem Fischanhänger aus neuem Türkis: Seite 26, Zeile 3 – Seite 28, Zeile 16
Prinz Dedefhor erzählt –> Das Märchen vom Zauberer Djedi
Die Erzählung von der wundersamen Geburt der drei Königskinder
Literaturnachweis:
- Abriss der Mittelägyptischen Grammatik / Hellmut Brunner .- Graz2 1967 (Brunner)
- A concise dictionary of Middle Egyptian / Raymond O. Faulkner. – Oxford4 1988 (Faulkner)
- Egyptian grammar / Alan Gardiner. – London 31982 (Gardiner)
- Grosses Handwörterbuch Ägyptisch-Deutsch (2800-950 v. Chr.) / Rainer Hannig. – Mainz 1995 (HWB)
- Wörterbuch der ägyptischen Sprache / A. Erman, H. Grapow (Hrsg). – Berlin und Leipzig2 1957 (WB)
- Ägyptische Lesestücke zum Gebrauch im akademischen Unterricht: Texte des Mittleren Reiches / hrsg. von Kurt Sehte. – Nachdruck der 2., verb. Aufl., 1928. – Hildesheim, Zürich, NewYork4, 1990
- Über Henry Westcars Tagebuch einer Reise durch Ägypten und Nubien (1823-24) / Rolf Herzog.- In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo 24 (1969), S. [201] – 211
- Grundzüge einer Geschichte der altägyptischer Literatur / Hellmut Brunner.- Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft4, 1986
- Altägyptische Märchen / übertr. und bearb. von Emma Brunner-Traut.- Köln: Eugen Dietrichs Verlag, 1986
- Die Geheim-Kammern im Thot-Heiligtum / von Alan H. Gardiner. – In: Journal of Egyptian Archaeology, 11, [1925], S. 289-294