Osian: Jain-Tempel Mahavira und Hindu-Tempel Sachiya Mata
Osian liegt etwa 60 km nordwestlich von Mandor entfernt und ist eine eher dörflich Siedlung, die jedoch Kleinodien früher hinduistischer Baukunst beherbergt. Hier hatten sich die Gujara angesiedelt, ein Stamm, der im 6. Jahrhundert vor den Hunnen aus Zentralasien geflohen war. Osian wurde für die Hindus sowie für Jains zu einem wichtigen religiösen Zentrum, und beide Glaubensgemeinschaften errichteten hier bedeutende Heiligtümer.
Der Mahavira-Tempel, ein im 8. Jahrhundert erbauter Jain-Tempel, gilt als frühestes Denkmal der Jain-Architektur in dieser Region, wurde aber im Laufe der Jahrhunderte immer wieder durch neue Bauten ergänzt und erweitert.
Obwohl die Götter des hinduistischen Pantheons im Jainismus keine Rolle spielen, schmücken dennoch zahlreiche Statuen verschiedener Gottheiten die Wände des Tempels. Architektonisch ist der Tempel im Prinzip eine Halle („Tanzhalle“), über der sich eine Kuppel wölbt, die von Säulen gestützt wird. Charakteristisch ist die überreiche Dekoration mit aus rotem Sandstein gemeisselten Figuren und ornamentalen Elementen. Die Tanzhalle liegt auf der Achse zum Allerheiligsten, die Wölbung der Kuppel ist mit Apsaras – Nymphen oder auch guten Feen – bestückt. Die zahlreichen weiblichen Wesen, die als Apsaras oder Göttinnen den Tempel schmücken, lassen das herrschende Schönheitsideal erkennen: barocke Körperformen – eine üppige Oberweite, eine schmale Taille und wohl gerundete Hüften. Geweiht ist der Tempel dem 24. Furtbereiter Mahavira. Um den Haupttempel herum befindet sich eine Reihe kleinerer Schreine für die Verehrung weiterer Furtbereiter.
Ganz in der Nähe liegt der Hindu-Tempel Sachiya Mata, ein der Göttin Durga geweihtes Heiligtum. Durga ist eine Inkarnation der zerstörerisch wirkenden Göttin Kali. Man gelangt zum Tempel über eine steile Treppe. Das Hauptheiligtum ist ebenfalls ein Bau aus dem 8. Jahrhundert, dem im Laufe der Zeit weitere kleine Kapellen hinzugefügt wurden. Das Innere des Tempels ist überreich mit „Spiegelmosaik“ ausgestattet, die Aussenwände sind ebenfalls üppig dekoriert, u. a. mit Szenenfolgen aus dem „Kamasutra“. Diejenigen, die sich hier nun eindeutig-zweideutige oder auch zweideutig-eindeutige Darstellungen aus diesem berühmten Buch erhoffen und ihre voyeuristischen Bedürfnisse befriedigen wollen, werden in ihren Erwartungen enttäuscht: man muss viel Fantasie haben, um in den ungelenken Verrenkungen der in den Stein gemeisselten Figuren erotische Patentgriffe zu erkennen. Die Verquickung von profanen Lustbarkeiten und Götterverehrung im Tempelbezirk muss unter dem Aspekt uralter Fruchtbarkeitsriten gesehen werden, und die Darstellung sich liebender Paare als Metapher für den Schöpfungsakt. Leibfeindlichkeit ist hier jedenfalls kein Thema, wovon schliesslich auch die barocken Formen der Apsaras, der Göttinnen und anderer weiblicher Wesen beredtes Zeugnis ablegen.
Etwas ausserhalb des Dorfes stehen Tempel vom Typus Harihara. Harihara ist die Bezeichnung für einen Tempel, in welchem das gemeinsame Kultbild von Shiva und Vishnu verehrt wird. Das hinduistische Pantheon ist kompliziert, die Zahl der Götter gewaltig. Die Grundlage des Pantheons ist die Dreifaltigkeit, Trimurti, des Schöpfergottes – Brahma (Schöpfung), Vishnu (Erhaltung) und Shiva (Zerstörung). Ihre Kraft können die Götter jedoch nur in Verbindung mit dem ihnen zugeteilten weiblichen Aspekt, Shaktri, entfalten, ausserdem treten sie in vielerlei Inkarnationen auf. Ein Anhaltspunkt für die Identifizierung der jeweiligen Inkarnation ist das Begleittier, das jeder Gottheit zugesellt ist. Der Tempel Hari-Hara II gilt hier als der am besten erhaltene Tempel dieses Typus’. Im Tempelbezirk stehen auch Gedenkstelen für Frauen, die beim Tod ihrer Ehemänner ebenfalls sterben wollten und sich hier verbrennen liessen, so genannte Satis.