Tempelfassade

Tempelfassade

 

Die Tempelfassade wird von den vier gewaltigen Sitzstatuen Ramses’ II. beherrscht. Eindrucksvoll demonstriert Ramses II. durch die Darstellung seiner Person seinen Herrschaftsanspruch an den südlichen Grenzen des Landes. Hans Strelocke schreibt hierzu: „Die Skulpturen, obgleich derart monumental, sind künstlerisch von einer bestechenden Einheitlichkeit und harmonischen Schönheit, scheinen hoheitsvoll zu lächeln und tragen nirgends düstere Züge oder Ansätze einer zu oft schon Ramses II. zugeschriebenen Dekadenz und prahlerischen Barocks“. 

Jede der vier Kolossalstatuen ist 20 m hoch, wobei das Gesicht jeweils 417 cm breit ist, die Stirn 59 cm hoch, die Nase 98 cm lang, ein Ohr 106 cm lang, der Mund 110 cm breit ist. Ramses II. sitzt auf dem Thron, er trägt das Nemes-Kopftuch, darüber die Doppelkrone, an der Stirn den Uräus, am Kinn den Zeremonialbart. Bekleidet ist der König mit dem kurzen Königsschurz, die Hände liegen auf den Oberschenkeln, die Beine stehen parallel, der König ist barfuss. Die am besten erhaltene Statue ist die Figur im äussersten Süden. Der Oberkörper der Statue auf der Südseite neben dem Tempeleingang stürzte schon im Altertum vom Sockel und wurde nicht wieder aufgerichtet.

Auf den Thronseiten der  beiden rechts und links vom Eingang stehenden Statuen ist das Motiv von der „Vereinigung der beiden Länder“ angebracht ist – zwei Nilgötter verknoten die beiden Wappenpflanzen Ober- und Unterägyptens:

– und auf den Thronsockeln befinden sich  Darstellungen von Gefangenen:

Auf der Südseite: Nubier                                Auf der Nordseite: Asiaten und Libyer

              

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In den Oberarmen der Statuen ist der Name Ramses’ II. eingraviert, jeweils gefolgt von einem Epitheton, das einen besonderen Aspekt des Herrschers betont: Herrscher der beiden Länder, Sonne der Herrscher, geliebt von Amun, geliebt von Atum (von Süden nach Norden).

Ein Zentralbegriff in der ägyptischen Kultur ist das Dogma von der Göttlichkeit des Königs. Der Pharao ist seinem Wesen nach Gott und Mensch zugleich – Mensch von Natur aus und Gott als Pharao auf Erden, wobei sich die Göttlichkeit des Pharao  auf  vier Ebenen manifestiert, und die Darstellung des Königs als Gott von der Nähe zu einem Gott bis zur völligen Identifikation mit diesem reichen kann. Bereits im Alten Reich führte der Pharao als Teil seiner Titulatur den Titel „Sohn des Re“, eine allgemeine Bezeichnung für die Verbindung des Königs zu  einer Gottheit, die im Mittleren Reich zu der Vorstellung von der göttlichen Geburt des Königs führt: ein Gott zeugt mit einer irdischen Mutter das Königskind (vgl. der Geburtszyklus in Deir el-Bahari). Im Königstitel wird der Pharao als Vertreter eines Gottes auf Erden mit „Der gute Gott“ und „Der grosse Gott“ bezeichnet, angeredet wird der König auch mit Götternamen „Du bist Re“. Ikonographische Darstellungen zeigen den König als Falken – Horus, der König als Vertreter des Sonnengottes auf Erden. Der König als Abbild einer Gottheit  rückt in die Nähe zum Kultbild einer Gottheit. Die Kultbilder im Tempel sind verborgen, aber der König  ist präsent und gilt als sichtbares Bild des Sonnengottes auf Erden und übernimmt auch dessen Funktion. Allerdings ist für den lebenden König kein Kult möglich, nur vor einem Bild des Königs können kultische Handlungen vollzogen werden. Das Dekorationsprogramm des Tempels von Abu Simbel zeigt, dass  Ramses II. hier göttliche Verehrung beanspruchte, indem er sich selbst als Gott darstellen liess und als Mensch vor seinem eigenen Bild opferte. Ein Zusatz zu einem Kultbild im Inneren des Tempels bezeichnet ihn auch als den „grossen Gott“, und im Sanktuar gesellt er sich den Göttern zu.  

In der Mitte der Tempelfassade befindet sich über dem Eingang zum Tempel eine Nische, in welcher der Gott Re-Harachtes als Mensch mit  einem die Sonnenscheibe tragenden Falkenkopf dargestellt ist. In der rechten Hand hält er die wsr-Hieroglyphe –  – und in der linken Hand eine Figur der Maat – . In einer senkrechten Kolumne steht die Beischrift:  

 ḏd mdw jn Rʿ Ḥr-зḫtj dj.n.j n.k ʿḥʿw n Rʿ rnpwt n Jtmw 

Worte werden gesprochen von Re-Harachte: ich habe dir gegeben die Lebenszeit des Re und die Jahre des Atum

Diese falkenköpfige Figur über dem Tempeleingang ist nicht nur ein Bild der Gottheit Re-Harachte – nach dieser Darstellung wird der Tempel auch  Re-Harachte-Tempel genannt – sie ist auch ein hieroglyphisches Zeichen für die Schreibung der Silbe rʿ im Namen des Königs. Zusammen mit den beiden Hieroglyphen in den Händen der Figur bildet das ganze Ensemble die kryptographische Schreibung des Thronnamens Ramses’ II., Wsr-mзʿt-Rʿ. Beidseitig des Bildes ist Ramses II. beim Vollzug des Rituals „Darbringen der Maat“  dargestellt. Der ganze Komplex – das Bild des Königs als Inkarnation des Re und der seinem vergöttlichten Abbild huldigende König –  veranschaulicht die kultische Bedeutung des Tempels. Zunächst war dieser für die beiden ramessidischen Hauptgötter Amun-re von Theben und Re-Harachte von Heliopolis gebaut worden,  der nördliche Teil für Re-Harachte und der südliche für Amun-re. Während der Zeit des Tempelbaues durchlief Ramses II. jedoch einen Prozess, dessen Ziel die Vergöttlichung seiner Person war. Er liess sein Bild den bereits bestehenden Götterbildern hinzufügen, sodass der Tempel auch zu einer Verehrungsstätte für die Person des vergöttlichten Königs wurde.  

Den oberen Abschluss der Tempelfassade bildet ein Fries mit einer Reihe die Sonne anbetender Paviane. Paviane wurden in Ägypten mit der Sonne in Verbindung  gebracht, da das Geschrei der Affen bei Tagesanbruch als Begrüssung der aufgehenden Sonne gedeutet wurde. Die Darstellung dieser Affen an der Fassade   gilt als Hinweis auf die Betonung des Sonnenkultes in diesem Tempel. In die Hohlkehle über den Kolossalstatuen sind die Kartuschen des Königs in das Gestein gemeisselt. Beginnend in der Mitte des Frieses, beidseitig  einer ʿnḫ-Hieroglyphe, steht in nach rechts und links auseinander laufender Schrift  

 Ḥr kз nḫt mrj mзʿt njswt bjtj Usr-mзʿt-Rʿ stp-n-Rʿ zз Rʿ Rʿmss mrj Jmn

Horus, starker Stier, geliebt von der Maat, König von Ober- und Unterägypten, stark in Bezug auf die Maat des Re, auserwählt von Re, Sohn des Re, Ramses, geliebt von Amun

jeweils mit einem Zusatz:

Zur Nordseite:  – Ḥr зḫtj nṯr ʿз mrj – geliebt von Harachte, dem grossen Gott

Zur Südseite:  – Jmn-rʿ njswt nṯrw mrj – geliebt von Amun-re, dem König der Götter

Die Könige Ägyptens nahmen bei ihrer Thronbesteigung eine aus fünf Elementen zusammengesetzte Titulatur an, bestehend aus Horus-Name, Goldhorus-Name, Nebtj-Name und Thron-Name sowie dem Geburtsnamen,  der als fünftes Element der Titulatur hinzugefügt wurde. Thronname und Geburtsname wurden betont, indem sie in eine in eine Kartusche eingeschlossen werden. Die vollständige Titulatur  wurde selten geschrieben, auch konnten die verschiedenen Elemente geändert werden. Vom Horus-Namen Ramses’ II. gibt es 26 Varianten, vom Gold- bzw. Nbtj-Namen jeweils acht Varianten. Anlass zur Änderung der Titulatur war das Sedfest. Die Titulatur eines Königs enthält gewissermassen dessen „Regierungsprogramm“.   Indem Ramses II. den Begriff Maat in verschiedene Elemente seiner Titulatur aufnahm, betonte er in besonderem Masse seine Verpflichtung zur Maat, diesem für alle Lebensbereiche gültigen Prinzip der Ordnung, Gerechtigkeit und Wahrheit, dessen Aufrechterhaltung oberste Pflicht und Aufgabe des Königs war.   

Vom Vorhof führt eine von zwei Stelen flankierte Treppe zur Terrasse vor dem Tempel. Auf den Stelen ist Ramses II. beim Vollzug von Opferhandlungen  dargestellt – auf der Stele zur Nordseite vor Amun-Re, Ptah und Weret-Hekau, auf der Stele zur Südseite von Armun-Re, Re-Harachte und Thot.  

Die Terrasse ist vom Vorplatz durch eine aus dem Fels geschlagene Brüstung getrennt, welche von einem Sims abgeschlossen wird. Unterhalb des Simses steht eine Weiheinschrift für den Tempel, und an der nördlichen äusseren Begrenzung befinden sich Stelen mit Hinweisen  auf die Einteilung der Kultbereiche im Tempel. Hier wurde auch eine kleine, Re-Harachte geweihte Sonnenkultstätte eingerichtet, eine Kapelle ohne Dach mit einer pylonartigen Fassade, nach R. Stadelmann eine so genannte Sonnenschattenkapelle, eine in Amarna entwickelte Form eines Sonnenheiligtums. Die Innenausstattung der Kapelle (ein Sonnenaltar, kleine Obelisken, Pavianfiguren) liess Gaston Maspero  nach Kairo in das Ägyptische Museum bringen. An der Südseite des Tempels befindet sich eine zweite Kapelle, die wie der Tempel in das Felsgestein getrieben ist. Sie war dem Gott Thot geweiht und diente nach Aussagen der Reliefs an den Wänden als Barkenraum für die Barke des Thot und diejenige des Re-Harachte. Vermutlich war die Kapelle das “Ausweichquartier” für die Götterbarken, nachdem Ramses II. sowohl die Nordwand der zweiten Pfeilerhalle im Tempel wie auch die Nordwand des Sanktuars für die Darstellung seiner eigenen Barke beansprucht hatte. Das Bild des opfernden Königs vor der Barke des Re-Harachte lässt diese Überlegung zu.

Neben und zwischen den Beinen der Kolossalstatuen befinden sich Statuen  verschiedener Familienangehöriger. Die Reihenfolge von Süden nach Norden:

 Prinzessin Nebet-tзwj (Tochter und spätere Gemahlin Ramses’ II.)

 Bint-Anat (älteste Tochter Ramses II, ein Kind der Isisnofret)

 Eine Prinzessin (anonym)

 Tuja (Mutter Ramses’ II.)

 Nefertarj

 Prinz Jmen-Ḫepešef (ältester Sohn Ramses’ II., Kronprinz)

 Nefertarj

 Tuja

 Prinzessin Merit-Amun (älteste Tochter der Nefertarj)

Man nimmt an, dass bei Baubeginn alle dargestellten Personen noch am Leben waren, und dass es sich um Personen handelt, die im Leben des Königs eine zentrale Rolle spielten (Nefertarj, der Kronprinz, die Mutter Ramses’ II.). Auffallend ist, dass der beschränkte Platz an der Tempelfassade mehrheitlich weiblichen Familienmitgliedern zur Verfügung gestellt wurde. Ihre Anwesenheit an der Tempelfassade muss man sicher mit der Idee vom Geburtsmythos in Verbindung bringen, dessen Sinn darin bestand, die Göttlichkeit des königlichen Kindes zu beweisen und damit seinen Anspruch auf den Thron zu legitimieren.

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